Der Schärfepunkt als kreatives Gestaltungsmittel

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Der Schärfepunkt als kreatives Gestaltungsmittel

Sa., 20/01/2018 - 22:26
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Immer wieder wird hier bei Makrotreff die Frage gestellt, wo der Schärfepunkt in einem Foto idealerweise liegen sollte. So banal diese Problemstellung klingen mag, so mächtig ist der gestalterische Hebel des Fotografen dahinter.

Bevor Du Dir als Makronist Gedanken darüber machst, wo der Schärfepunkt im Bild am besten liegt, solltest Du Dir folgende Fragen stellen – und beantworten:

Was willst Du auf dem Foto zeigen? Wo soll der Betrachter hinschauen?

Der (Makro-)Fotograf als kreativer Gestalter

Du hast mit Deiner Fotokamera ein Werkzeug in der Hand, mit dem Du gestalten kannst. Das betrifft viele Bereiche. Einer davon ist die Lenkung des Betrachterauges – und zwar nicht nur mittels der eigentlichen Motivwahl mit der Kamera selbst, sondern auch innerhalb des Bildes.

DU als Fotograf/Künstler lenkst den Blick des Betrachters – unter anderem dadurch, dass Du einen Schärfepunkt festlegst. Das ist ein wesentlicher Aspekt Deines künstlerisch–fotografischen Schaffens. Du führst mit der Lage des Schärfepunktes das Auge des Betrachters dorthin, wohin Du es haben möchtest, was Du also zeigen willst. Da kommt der Bildbetrachter gar nicht aus, weil sein Auge automatisch nach Schärfe sucht – ähnlich dem Autofokussystem einer Kamera.

Damit ist es also ziemlich unsinnig, pauschal zu sagen, ob der Schärfepunkt besser im Vordergrund, im Hintergrund oder an irgendeiner Bildseite liegen sollte. Das kann man überhaupt nicht verallgemeinern. DU musst Dir VOR der Aufnahme überlegen, was Du willst! Das ist Dein Auftrag an Dich selbst, und das ist auch Deine große Freiheit bei der Fotografie. Und dann überlegst und entscheidest Du, wie Du Dein Vorstellung bildgestalterisch und fototechnisch umsetzt. Dazu stehen Dir eine Menge Gestaltungsmittel in Deinem fotografischen Werkzeugkasten zur Verfügung – unter anderem die Bestimmung der Lage des Schärfepunkts.

Die Kamera dient als Werkzeug unserer fotografischen Vorstellungen – nicht umgekehrt!

Möchtest Du beispielsweise, dass der Betrachter etwas Bestimmtes im Hintergrund anschaut? Dann kreierst Du Bildtiefe, indem Du das Hauptmotiv und damit die Schärfe in den Hintergrund legst.
Oder soll er mehr ein Detail im Vordergrund sehen? Dann baust Du das Bild "flacher" auf, indem Du Hauptmotiv und Schärfe nach vorne legst.

 

Olympus E-M1 Mark II; Olympus 60mm F2.8 Makro; ISO 200; 1/125 Sek.; Blende 3.2

Krokus (Crocus sp.) in der Krokus-Gruppe

Was wollte ich zeigen? Ich wollte auf dem Foto einen Krokus zeigen, der inmitten einer Krokus-Gruppe steht. Diese "Gruppenbildung" ist ein typisches Wuchsverhalten dieser Zwiebel-Pflanze.

Was bedeutet dies für die Lage des Schärfepunkts? Ich wählte ein schönes Exemplar zwischen anderen blühenden Krokussen aus – nicht im Vordergrund, aber auch nicht im Bildhintergrund, sondern inmitten der Krokus-Gruppe. Dadurch entsteht eine mittlere Bildtiefe. Auf diese Blüte legte ich den Schärfepunkt, und zwar mit einer offenen Blende, also mit einer sehr schmalen Schärfeebene. Dadurch wird der Betrachterblick gezielt auf diesen Krokus gelenkt, auf einen Krokus in der Krokus-Gruppe.
 

Verdeutlichende Bildpaare

Wie stark Du als Fotograf das Sehverhalten eines Betrachters und damit die Aussage eines Fotos durch die Lage des Schärfepunkts bestimmen kannst, siehst Du an den folgenden Bildpaaren. Sie zeigen jeweils das exakt gleiche Bild bzw. den exakt gleichen Bildausschnitt. Nur über die Lage des Schärfepunktes habe ich jeweils bestimmt, wohin der Betrachter schauen soll.

  • Achte auf Dein (automatisches) Verhalten beim ersten Anschauen. Wohin geht Dein erster Blick?
     
  • Achte auf die unterschiedliche Bildwirkung.
     
  • Betrachte die "Macht" der Schärfeebene als (makro-)fotografisches Gestaltungsmittel.


Vergleiche diese Bildpaare jeweils ganz genau. Dann wirst Du erkennen, wie umfassend Deine Möglichkeiten, aber auch Dein Gestaltungs-Aufträge als (Makro-)Fotograf sind. Mit der Zeit wirst Du ein Gespür für die vielen Dir zur Verfügung stehenden Hebel und ihren gewaltigen Wirkungen bekommen. Und dann bist Du mittendrin in der tollen und erfüllenden Tätigkeit der Fotografie.
 

Olympus E-M1; Olympus 90mm F2.0 Makro; ISO 400; 1/800 Sek.; Blende 2.0

Gemeine Langbauchschwebfliege (Sphaerophoria scripta) in Blumenwiese auf dem Laubblatt einer Esparsette (Onobrychis viciaefolia).

Der Betrachterblick wird durch die extrem schmale Schärfeebene (Blende 2.0!) gezielt auf den vorderen Rand des oberen Esparsettenblatts gelenkt. Die Architektur der Blattanordnung dominiert die Bildwirkung, fordert nahezu seine gesamte Aufmerksamkeit. Das im Hintergrund befindliche Insekt wird – wenn überhaupt – nur als verschwommener Fleck wahrgenommen, verwirrt vielleicht sogar.
 

Olympus E-M1; Olympus 90mm F2.0 Makro; ISO 400; 1/800 Sek.; Blende 2.0

Gemeine Langbauchschwebfliege (Sphaerophoria scripta) in Blumenwiese auf dem Laubblatt einer Esparsette (Onobrychis viciaefolia).

Die Architektur des Esparsettenblatts leitet den Betrachterblick zum Hauptmotiv, der Schwebfliege am Ende des Blattes. Die extrem schmale Punktschärfe der offenen Blende 2.0 auf dem Fliegenkopf hält den Betrachterblick fest.

Die Verbindlichkeit dieser Bildwirkung wird unterstützt durch den ausschließlich im Schärfepunkt befindlichen Farb- und Helligkeitsunterschied gegenüber dem gesamten restlichen Bild sowie der Positionierung der Fliege in den Goldenen Schnitt. Dadurch erhält das Bild eine positive Wirkung auf den Betrachter, der dieses positive Gefühl wiederum auf das Dargestellte, die kleine Schwebfliege am Ende des Esparsettenblatts, überträgt.

Ein Foto mit klarem, stringentem Bildaufbau ohne Widerspruch, bei dem der Schärfepunkt ein Haupt-Gestaltungsmittel darstellt.
 

Olympus E-M1; Olympus 90mm F2.0 Makro; ISO 100; 1/500 Sek.; Blende 4.0

Zauneidechse (Lacerta agilis) - reifes (Vordergrund) und junges Männchen (Hintergrund) im Balzkleid.

Bei diesem Foto wird der Betrachterblick sofort auf das im Vordergrund befindliche reife Eidechsenmännchen gelenkt – unterstützt durch die Lage der Schärfeebene.
 

Olympus E-M1; Olympus 90mm F2.0 Makro; ISO 100; 1/500 Sek.; Blende 4.0

Zauneidechse (Lacerta agilis) - reifes (Vordergrund) und junges Männchen (Hintergrund) im Balzkleid.

Nun wird der Betrachterblick am Vordergrund vorbei auf das im Hintergrund befindliche junge Eidechsenmännchen gelenkt – regelrecht angesogen durch die Lage des Schärfepunkts.
 

Olympus E-M1 MarkII; Olympus 60mm F2.8 Makro; ISO 400; 1/320 Sek.; Blende 4.0

Acker-Wachtelweizen (Melampyrum arvense)

Der Betrachterblick wird sofort auf die Spitze des roten Deckblatts gelenkt, auf der die Schärfe liegt – obwohl die dahinter liegende Blüte die auffälligere Form und Farbe hat.
 

Olympus E-M1 MarkII; Olympus 60mm F2.8 Makro; ISO 400; 1/640 Sek.; Blende 2.8

Acker-Wachtelweizen (Melampyrum arvense)

Der Betrachterblick wird durch die Schärfe und ihre auffällige Form und Farbe sofort auf die Blüte des Acker-Wachtelweizens gelenkt, obwohl die Blende 2.8 hier nur einen sehr schmalen Bereich scharf wiedergibt. Focus Stacking bei gleicher Blende würde diesen Effekt nochmals deutlich verstärken.
 

Olympus E-M1; Olympus 90mm F2.0 Makro; ISO 200; 1/4000 Sek.; Blende 2.8

Bunte Kronwicke (Securigera varia) - im Vordergrund sitzt eine Spinne in ihrem Netz, nicht sichtbar!

Der Betrachterblick wird ausschließlich auf die Kronwicke gelenkt. Die Unschärfen im Vordergrund und in der Bildtiefe weisen auf den Standort der Kronwicke inmitten eines dichten Pflanzenbewuchses hin.
 

Olympus E-M1; Olympus 90mm F2.0 Makro; ISO 200; 1/4000 Sek.; Blende 2.8

Bunte Kronwicke (Securigera varia) - unscharf im Bildhintergrund zu sehen. Im Vordergrund sitzt eine Spinne in ihrem Netz.

Der Betrachterblick wird auf die Spinne gelenkt, die Kronwicke im Hintergrund ist nur noch Teil des "Rahmens", Teil des natürlichen, umgebenden Lebensraums. Der Bildausschnitt ist exakt identisch mit dem Bildausschnitt oben. Der Schärfepunkt zeigt einen anderen Teil des Bildes, wodurch das gesamte Bild ein völlig anderes wird.
 

Fazit

Wer entscheidet, wo der Betrachter hinschaut?

Der Makronist.

Was ist sein Werkzeug?

Die Lage der Schärfe gegenüber den Unschärfen (neben weiteren Werkzeugen). Interessant ist es, aus diesem Blickwinkel die Wirkungen von Focus Stacking zu bedenken – insbesondere bei Motiven, die ohne Differenzierung von vorne bis hinten durchgestackt wiedergegeben werden.

In diesem Sinne wünsche ich allen Makronisten viel (Schaffens-)Freude beim Gestalten der Fotos.

Roland Günter

 

Interessanter Link zum Thema "Schärfepunkt":

  • Adrian Scheel fotografiert leidenschaftlich gerne mit "Vintage-Objektiven", auch etwas grob "Altglas" genannt.
    Hierunter versteht man alte bis sehr alte, meist lichtstarke Objektive unterschiedlichster Brennweite, die insbesondere bei Offenblende über charakteristische Abbildungseigenschaften verfügen. Sie unterscheiden sich hier deutlich von modernen Linsen und eignen sich hervorragend für eine künstlerisch ausgerichtete Fotografie, auch im Makrobereich. Gerne wird bei dieser Vintage-Fotografie mit einer extrem schmalen Schärfeebene gearbeitet. Damit kommt neben der Wiedergabe-Charakteristik des Hintergrunds (Bokeh) dem Schärfepunkt und seiner Lage eine sehr große Bedeutung zu.
    Adrian Scheel beherrscht diese Art der künstlerischen Makrofotografie von Naturmotiven meisterlich. Bei seinen Fotos kann man sehr gut die oben im Artikel beschriebene "Macht" der Wirkung des Schärfepunkts in einem Bild studieren.

Roland Günter ist Betreiber von Makrotreff und Chefredakteur von MAKROFOTO. Der Dipl. Forst-Ingenieur betreibt die Makrofotografie hauptberuflich und verwaltet ein umfangreiches biologisch-wissenschaftliches Bildarchiv.

Der Kern seiner Arbeit liegt in der Dokumentation biologischer Vielfalt. Zu diesem Themenkomplex werden seit vielen Jahren seine Fotos und Reportagen im In- und Ausland in vielen gängigen Zeitschriften und Buchproduktionen publiziert.

Einen weiteren Schwerpunkt seiner Tätigkeit bildet die von ihm auf professionelles Niveau gehobene künstlerisch-kreative Vintage-Makrofotografie – also die Fotografie mit alten Objektiven an modernen Sensoren. Unter anderem hat er den einzigartigen Multivisions-Vortrag Fotografie mit Flair – Malen mit der Kamera konzipiert und neben anderen Events bei den Internationalen Fürstenfelder Naturfototagen vor großem Publikum gehalten.

Kommentare

Profile picture for user Sigi Weyrauch
Makronist

Hallo Roland,

genau diese Frage beschäftigt mich permanent, nun hast du auf so eindrucksvolle Weise alle Antworten bildlich und schriftlich gegeben. Es kommt mir inzwischen vor, seit ich im Makrotreff bin, wie ein Puzzle womit ich vorher zwar mit der Kamera unterwegs war, mit vielen Fragezeichen auf allen Ebenen, und jetzt fügt sich mehr und mehr ein Teil zum andern. Ich muss deinen Beitrag noch in Ruhe verinnerlichen damit ich weiter auch diese spannende Sichtweise umsetzen kann.

Vielen lieben Dank dafür  Gruß Sigi 

Profile picture for user Flora1958

MOD

Hallo Roland,

wieder einmal ein toller,hilfreicher Artikel mit sehr ansprechenden und eindrucksvollen Fotos als Beispiel.Danke schön!

Liebe Grüße

Gabi

 

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