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ADMIN

Eintritt in eine andere Bild-Welt

Hallo Gabi,

mit Im Elfenwald stellst Du ein sehr außergewöhnliches Foto ein. Dieses Bild ist abseits vieler Normen, weist aber klare und herausragende Merkmale auf. Das macht es zu einem sehr besonderen Foto. Um es vorweg zu nehmen:

GRATULATION zu diesem außergewöhnlichen Top-Foto!

Du hast ein ganz besonderes Bild erstellt, bei dem Du die Eigenschaft der eingesetzten Vintage-Optik perfekt mit der Bildaussage kombiniert hast.

Ich gehe es im Einzelnen durch:

Reduktion

Zunächst einmal besticht das Foto durch Reduktion.

Was hast Du fotografiert? Gras, einfach nur Gras. Hier und da vermute ich ein Blatt – oder doch nicht? Und hier geht es schon los; Vieles ist angedeutet, verschwimmt in Unschärfen.
Der Fokus liegt deutlich und nicht zufällig auf einem Bereich eines einzelnen Grashalms, der sich in schwungvollem Bogen von rechts ausgehend der oberen Drittellinie nähert, um links im Nichts zu entschwinden.
Ein weiterer kleiner Schärfeanker befindet sich im oberen rechten Bildeck. Aussage: die gleiche! Ebenfalls ein Grashalm, nur seien Form ist anders: gerade. Und er bildet zusammen mit dem unscharfen Grashalm im oberen linken Bildeck ein (schützendes) Dach über den Raum darunter (siehe weiter unten).

Der Rest in ein Meer von Unschärfen, von verschiedenen Grüntönen – und von Lichtern.

Im unteren Drittel sind zusätzlich Grashalme im Vordergrund, mehr Schattierungen von Grashalmen, zu erkennen.

Tiefenraum

Mit dieser Darstellungsform schaffst Du Raum im Bild. Der (Haupt-)Grashalm befindet sich mitten in diesem Raum, zwischen angedeuteten Halmen vor ihm und dem Unschärfemeer hinter ihm.

Insbesondere der Raum hinter dem Halm (Tiefenraum) ist DAS wesentliche Element dieses Fotos. Mit seiner malerischen Undeutlichkeit schafft er Möglichkeiten zum eigenen Denken, Raum für Phantasien. Er stellt das Gegenteil dar zum Konkreten, zum Naturalistischen, dargestellt durch die beiden scharf dargestellten Halmbereiche. In der unaufgeregten Leisigkeit dieses (fast) leeren Raums findet der Bildbetrachter im wahrsten Sinne des Wortes Tiefe. Hier kann er verweilen, hier wird vieles undeutlicher (unschärfer). Hier ist das, was man in der Lyrik mit  "zwischen den Zeilen wächst das Poetische" beschreiben könnte.

Um diese Bildwirkung zu erreichen, um diesen Raum darzustellen, benötigt man sehr lichtstarke Objektive, hier in diesem Fall die sehr offene Blende 1.2 des 55mm-Objektivs. Bei diesem eigentlich eher unspektakulären Bild hast Du mit der extrem geringen Schärfentiefe den Raum dadurch geschaffen, dass Du sie perfekt auf einen kleinen Bereich eines Grashalm "gehängt" hast. Diesen kleinen Bereich hast Du damit fixiert. Und um ihn kann sich nun dieser Raum bilden – in den Unschärfen davor und insbesondere dahinter.

Licht

Unterstützt wird diese Aussage durch die Hineinnahme des Lichts. Zum einen ist es in Form von Lichtpunkten und Kreisen samt sphärischer Umgebung im Tiefenraum zu finden. Zum anderen dringt es von oben (Himmel) ins Bild. Aufgrund der aus heutiger Sicht eher unzureichenden Vergütung des Vintage-Objektivs reichen seine sphärischen Überstrahlungen und Flares in den Tiefenraum darunter hinein. In diesem Bereich wird alles noch undeutlicher, das Nichtkonkrete des Tiefenraums wird verstärkt.

Zeit

Licht ist flüchtig. Es ändert sich rasch. Sekunden später ist bereits alles anders. Damit wird Dein Foto nicht zu einer Dokumentation eines fixen Zustands, sondern zum Abbild eines Moments, in dem gerade diese eine Phase des Lichts vorliegt. Mit der Hineinnahme der Zeit hast Du das Wesen von Veränderung fotografiert. Ein Moment (lat. movere = bewegen) beschreibt keinen festen Zustand, sondern vielmehr einen Impuls – es wird etwas gezeigt, das sich verändert; das Licht ist gleich nicht mehr wie jetzt.

So viel kann in einem reduzierten Bild stecken!

Eine andere Ebene der Fotografie

Ich denke, viele User oder auch Gäste von Makrotreff werden sich an dieser Stelle ein wenig über das Foto Im Elfenwald und meine Analyse wundern. Ich hoffe, dass ich verdeutlichen kann, dass wir mit diesem Foto eine völlig andere Ebene als die gewöhnliche und weit verbreitete betreten. Während es in der naturalistischen, modernen Naturfotografie um die möglichst naturgetreue Ablichtung eines Teils, eines Ausschnitts aus der Natur geht, stehen bei diesem Bild die Abstraktionen im Vordergrund. Farben, Licht und insbesondere Unschärfen werden zu alleinigen Ausdrucksformen von Stimmungen, Gefühlen und Prozessen.

Impressionismus

Am ehesten kann man dies mit der Entwicklung vom Naturalismus zum Impressionismus in der Malerei vergleichen. Schaut man sich beispielsweise die Bilder von Claude Monet an, wird man viele Parallelen entdecken. Er arbeitete vorwiegend mit reduzierten Pinselstrichen, Farben – und Licht.
Bekanntlich setzte sich diese Entwicklung über den Expressionismus bis hin zu verschiedenen heutigen modernen Richtungen fort.

In meinen Augen, die dieses Foto nicht besser oder schlechter, sondern völlig anders betrachten als viele andere gute Fotos, ist dies ein ganz großartiges Foto! Ich würde es vergrößern – und dann ab an die Wand damit :-)!
[Anmerkung: Dieses Foto sollte man sich unbedingt vergrößert anschauen: rechte Maustaste anklicken und dann in neuem Tab öffnen.]

Und nun gehe ich wieder freudig, aber auch ein wenig demütig ums Feuer tanzen :-).

In diesem Sinne weiterhin "Gut Licht",

Roland

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