INSEL-LEBENSRÄUME - Mini-Eldorados für Makronisten (oder: Aus dem Leben der Heuschreckensandwespe Sphex funerarius)
Nun ist es wieder soweit: Draußen wird es wärmer! Überall erscheinen Tiere aus ihren Überwinterungsquartieren, vor allem Kleintiere. Für Makronisten beginnt die hohe Zeit der Fotografie von Insekten. Und mit zunehmender Wärme erscheinen von denen immer mehr.
Jetzt und während des gesamten Sommers ist es sehr lohnenswert, sich trocken-warme Insel-Lebensräume genauer anzuschauen. Sie liegen zum Beispiel gerne an südexponierten Waldrändern, neben Feldgehölzen, in Randlagen landwirtschaftlicher Flächen oder an Wegrändern und haben oft mehr oder weniger große vegetationsfreie Bodenstellen. Häufig sind sie der vollen Sonneneinstrahlung ausgesetzt, mager, unauffällig – und unbeachtet! Wirtschaftlich sind solche Insel-Lebensräume von geringem Interesse, alleine das ist ihre derzeitige Daseinsberechtigung! Entweder sind sie zu klein, zu nährstoffarm, oder sie liegen einfach ungünstig. Für Makronisten jedoch bieten die meist nur wenige Quadratmeter großen Flächenüberbleibsel viele tolle Motive. Die sind aber auf den ersten Blick nicht so schnell zu sehen – was einen Makronisten natürlich nicht abschreckt!
Eine sehr unscheinbare kleine Pflanze auf solchen Standorten ist der Dreifinger-Steinbrech (Saxifraga tridactylites). Er ist außerordentlich genügsam und gedeiht auf reinem Sandboden, ja sogar auf Steinen, erreicht hier aber nur wenige Zentimeter Wuchshöhe.
Die winzige Schönheit liefert zwar Nektar, wird aber von kaum einem Insekt angeflogen – außer von einigen kleinen Wildbienen. Sie sorgen für die Bestäubung der nur etwa 3 mm großen Blüten. Kommt keine Biene, bestäubt sich der Pflanzen-Zwerg selbst – er ist halt sehr genügsam.
Diese kleinen Bestäuber sieht man nur, wenn man wirklich genau hinschaut. Und richtig interessant wird es (fast immer!), wenn man sich in solchen Kleinbiotopen zunächst einmal einfach auf den Boden setzt, abwartet und beobachtet. Dann entdeckt man plötzlich Bewegungen an Stellen, wo vorher keine Bewegung war. Und schon wird’s spannend.
Auf diese Weise habe ich im vergangenen Sommer eine Wespe beim Verlassen ihres Bodennestes entdeckt – aber erst, nachdem ich etwa eine halbe Stunde regungslos gewartet hatte. Es handelte sich um die eigentlich recht seltene Heuschreckensandwespe (Sphex funerarius), eine Grabwespe, die sich seit einigen Jahren von Südeuropa ausgehend bei uns zunehmend ausbreitet. Sie erreicht stattliche 26 mm Größe und gehört damit zu den imposantesten Insekten unserer Kleintier-Welt. Ich war überrascht, sie auf einer nur wenige Quadratmeter großen sandigen Fläche am Rande einer wirtschaftlich genutzten Obstplantage zu finden – genau dort, wo im Frühjahr das Hungerblümchen blüht. Ich entschied mich, das Verhalten dieser Wespe als typische Bewohnerin trocken-warmer Sandböden zu dokumentieren. Hier bietet die Makrofotografie tolle Möglichkeiten. Sie kann Dokumente von hoher biologischer oder naturschutzfachlicher Aussagekraft liefern – mal ganz abgesehen von den einmaligen Erlebnissen, die der oder die MakrofotografIn während der Zeit der Erstellung hat! In diesem Artikel zeige ich Euch ein Beispiel für eine solche makrofotografische Dokumentation. Hauptdarsteller ist, wie bereits erwähnt, die Heuschreckensandwespe.
Weil ihr deutscher Name lang und der volle lateinische Name schwierig ist, spreche ich ab jetzt nur noch von dem Sphex (gesprochen „sfex“). Damit liegen wir übrigens auf „Schulterhöhe“ mit den entomologischen Experten, die ebenfalls im Gespräch meistens nur noch diese Kurzform verwenden – allerdings aus einer anderen Legitimation heraus: Innerhalb der Gattung Sphex gibt es bei uns in Deutschland nur diese eine Art (eben Sphex funerarius). Damit ist also – spricht man vom Sphex – eine Verwechslung ausgeschlossen.
Der Sphex ist sehr wärmeliebend und kommt deshalb auch nur in trocken-heißen Naturräumen wie zum Beispiel in unseren Flusstälern vor. Und er braucht offenen Sandboden, um darin sein Nest zu graben. Da diese Lebensraumcharakteristik immer seltener zu finden ist, besiedelt der Sphex scheinbar zunehmend auch die kleinen trocken-warmen Flächenrelikte (traurig, aber wohl wahr!). Auf diesem Foto ist ein solcher Sandlebensraum am Rande eines Feldgehölzes zu sehen – zwar nicht ganz so klein, aber dennoch weniger als 50 Quadratmeter groß.
Diese Lebensräume sind übrigens in den letzten Jahrzehnten stark zurückgedrängt worden und heute sehr rar. Entweder sind sie, wie gesagt, nur noch als sehr kleine Relikte vorhanden, oder sie stehen unter Naturschutz. Und das ist auch notwendig, weil ihr Oberboden locker ist und sie dadurch äußerst empfindlich gegen Oberflächen-Zerstörungen sind. In Naturschutzgebieten ist deren Betreten in der Regel abseits der Wege untersagt. Man sollte aber auch außerhalb von Schutzgebieten auf solchen Böden sehr vorsichtig fotografieren, am besten zum Beispiel nur direkt am Rand von Wegen oder Trampelpfaden. Auch hier sind Sphexe oder andere interessante Insekten zu finden.
Aber unberührt dessen besteht die weitaus größte Gefährdung für den Sphex und seine Lebensräume in zwei anderen Gegebenheiten: Zum einen sind in den letzten Jahrzehnten extrem viele dieser wertvollen, trocken-heißen Biotope wirtschaftlichen Interessen wie landwirtschaftlicher Nutzung oder Bebauung zum Opfer gefallen. Zum anderen unterliegen die noch übrig gebliebenen Reste einem enorm hohen Sukzessionsdruck, d.h. dem Druck, durch natürliche Bewachsung ihre vegetationsfreien Flächenanteile zu verlieren – gefördert durch ständigen Düngeeintrag über die Luft (Luftstickstoff). In fast allen Fällen müssen die Flächen künstlich freigehalten werden.
Schauen wir uns den Wespen-Riesen mal genauer an. Er erscheint in den heißesten Wochen des Jahres und ernährt sich vom Nektar verschiedener Pflanzen, unter anderem auch gerne vom Feld-Mannstreu (Eryngium campestre).
Sehr bald geht das Sphex-Weibchen seiner wichtigsten Tätigkeit nach: dem Nestbau. Hierzu sucht es sich eine möglichst vegetationsfreie Stelle im Sandboden und fängt an zu graben.
Es scharrt mit den beiden Vorderbeinen den Sand unter seinen Körper nach hinten, und zwar im Gleichtakt – beide Beine werden parallel zueinander bewegt.
Das Ganze geschieht in einer enormen Schnelligkeit, ja fast Hektik.
Das stellt natürlich eine makrofotografische Herausforderung dar. Die Bewegungen des Tieres sind so schnell, dass dieses Verhalten ausschließlich mit Blitzlicht fotografiert werden kann. Damit liegen die tatsächlichen Belichtungszeiten zwischen etwa 1/10.000 und 1/15.000 Sekunde.
Nun stellt sich natürlich die Frage, ob die Tiere durch die Verwendung des Blitzlichts gestört werden. Diese Frage ist nicht mit einem pauschalen Ja oder Nein zu beantworten. Blitzen in der Makrofotografie ist spannend und erweitert den Arbeitsbereich beträchtlich. Und es bestehen viele verschiedene technische Möglichkeiten, Blitzlicht einzusetzen.
Kommt noch der Anspruch hinzu, die „Models“ nicht zu stören, klingt die ganze Sache noch komplizierter. Die gute Nachricht ist: Dieses Problem ist in den Griff zu bekommen! Dazu werde ich sicherlich beizeiten einen eigenen Artikel verfassen und auf Makrotreff einstellen. Hier an dieser Stelle möchte ich nur soviel festhalten, dass der Sphex im vorliegenden Beispiel durch das Blitzlicht nicht gestört wurde – ansonsten wäre er beim ersten Foto geflüchtet und würde nicht einer völlig normalen Verhaltensweise nachgehen! Hier zeigt sich also bereits, wie wichtig für eine „biologische Fotografie“ die Reduktion oder Vermeidung von Störungen ist.
Aber zurück zum Sphex. Sobald die Wespen-Dame eine kleine Röhre gegraben hat, läuft sie vorwärts in dieses Loch hinein, lockert grabend mit den Vorderbeinen Sand, drückt sich anschließend mit den Beinen diesen Sand unter den Kopf und läuft rückwärts wieder aus dem Nest heraus.
An der Bodenoberfläche angekommen, lässt sie den Sand durch das Öffnen der Vorderbeine fallen und schleudert ihn mit einigen ruckartigen Kehrbewegungen der Vorderbeine unter ihrem Körper nach hinten weg.
Dieser Vorgang wiederholt sie so oft, bis eine etwa 15 cm tiefe Röhre im Boden entstanden ist, an deren Ende sich eine Erweiterung befindet, die Brutkammer.
Dann geht unsere Wespen-Dame auf Jagd. Sie sucht eine große Heuschrecke, überwältigt und betäubt sie durch einen Stich mit ihrem Giftstachel. Keine Angst, Makronisten gehören nicht zum Beutespektrum des Sphex. Wer zu den Beutetieren und dem genauen Vorgang der Narkotisierung mehr erfahren möchte, kann dies hier auf der Website www.naturbildarchiv-guenter.de sehen und lesen.
Nun steigt der Sphex über die „schlafende“ Heuschrecke, packt mit seinen Kiefernzangen deren Antennen, umgreift mit den Vorderbeinen den vorderen Körper des Opfers und – fliegt ab.
Der Weg zum Nest kann lang sein: 50, manchmal bis zu 100 Meter müssen mit der schweren Heuschrecke bewältigt werden. Ab und zu ruht sich der Sphex im Schutz niedriger Vegetation am Boden aus, ohne dabei die Schrecke loszulassen.
Im Inneren des Nestes schlüpft bereits nach etwa 3 - 4 Tagen die kleine Sphex-Larve und beginnt sofort damit, die Heuschrecken zu verzehren. Nach Abschluss der Fressphase spinnt sie sich in einen mehrschichtigen, sehr widerstandsfähigen Kokon ein und verpuppt sich. Noch im gleichen Jahr entwickelt sich der reife Sphex der nächsten Generation, der geschützt im Kokon in der Brutkammer überwintert. Und im kommenden Jahr gräbt und beißt sich der adulte junge Sphex an die Bodenoberfläche, der Kreislauf beginnt von vorne.
Während seiner Tätigkeit erhält der Sphex ab und zu Besuch. Eine kleine Parasitfliege (Sacrophagidae) kommt immer wieder vorbeigeflogen ...
... und schaut nach, wie weit Baufortschritt und Eiablage beim Wespennest sind. Diese kleinen Gesellen sind lästige Schmarotzer in der Welt der Sphexe, wobei sie nur ihrem inneren Programm der Sicherung der eigenen Nachkommen folgen. Sie warten geduldig in der Nähe des Nestes, um in einem unbeobachteten Moment in das Nestinnere einzudringen. Dort legen sie ein Ei oder eine bereits geschlüpfte Junglarve ab. Diese frisst dann ebenfalls die schlafenden Heuschrecken. Manche Parasitfliegen versuchen auch, bereits außen am Nesteingang, wenn die Wespe mit ihrer Beute erscheint, also noch vor dem Eintragen ins Nest, ihr Ei an die narkotisierte Heuschrecke anzuheften. Dann nimmt der Sphex das Parasitenei quasi selbst mit in die Brutkammer.
Bei den kleinen Fliegen handelt es sich in der Regel also um Nahrungsspezialisten. Deren Mitfressen am Heuschreckenvorrat kann dazu führen, dass die Wespenlarve nicht mehr genügend Nahrung hat, um sich vollständig zu entwickeln. Da es sich in der "Grabkammer" um ein geschlossenes System handelt, stirbt die heranwachsende Wespenlarve. Die wesentlich kleinere Fliegenlarve hingegen gelangt zur vollständigen Reife und sicher somit ihr Überleben. Dies mag uns Menschen grausam erscheinen. Biologisch gesehen erschließen wir uns aber mit dem Beobachten und Fotografieren der kleinen Fliege nicht weniger als eine weitere Dimension innerhalb der Biologie: den Schritt in die biologische Vielfalt. Am Anfang stand der Lebensraum mit seinen charakteristischen Strukturen und Merkmalen. Darin lebt der Sphex und legt seine Brut an. Und da, wo der Sphex fliegt, fliegt auch sein Feind, die kleine Parasitfliege. In dieser Form ist es möglich, Biodiversität zu fotografieren - und anderen Mensch zugängig zu machen. Eine tolle und super interessante Einsatzmöglichkeit der Naturfotografie allgemein und der Makrofotografie im Speziellen!
Übrigens: Die kleine Parasitfliege ist recht häufig beim Sphex. Man muss sie nur entdecken!
Seid beruhigt, meine Artikel auf Makrotreff werden zukünftig nicht alle so lang ausfallen. Ich werde auch deutlich kürzere schreiben. Aber das Leben auf wenigen Quadratmetern Insel-Lebensraum ist für einen Makronisten einfach zu interessant!
Gerne könnt Ihr unten ins Kommentar-Feld eigene Beobachtungen, Eure Anregungen oder aber auch nur einen Kommentar schreiben.
In diesem Sinne wünsche ich Euch tolle Beobachtungen und „Gut Licht“,
Roland Günter

Roland Günter ist Betreiber von Makrotreff und Chefredakteur von MAKROFOTO. Der Dipl. Forst-Ingenieur betreibt die Makrofotografie hauptberuflich und verwaltet ein umfangreiches biologisch-wissenschaftliches Bildarchiv.
Der Kern seiner Arbeit liegt in der Dokumentation biologischer Vielfalt. Zu diesem Themenkomplex werden seit vielen Jahren seine Fotos und Reportagen im In- und Ausland in vielen gängigen Zeitschriften und Buchproduktionen publiziert.
Kommentare

Absolut interessanter…
Absolut interessanter Artikel! Ich finde es toll, dass hier bei Makrotreff solche Artikel zu finden sind. Die Biologie dieser Wespe ist super interessant, und der Beitrag absolut lesenswert. Ich werde noch öfter bei Makrotreff "vorbeischauen".
Gruß, Markus
Hallo Roland,…
Hallo Roland,
ein toller und sehr informativer Artikel. Riesen Respekt dafür und Danke, dass Du uns hier auf Makro-Treff die Möglichkeit gibst, uns deinen Touren und Artikeln zu erfreuen.
Es ist schon grandios, was man alles erlebt, wenn man nur mal die Augen richtig öffnet. Eine Gabe, die heutzutage leider immer mehr verloren geht!
Viele Grüße,
Sebastian

ADMIN
Hallo Sebastian,…
Hallo Sebastian,
schön, dass Dir auch unsere in die Tiefe gehenden Inhalte hier auf Makrotreff gefallen. Vielleicht motiviert das ja den Einen oder Anderen, Ähnliches zu machen.
Und Du hast Recht: Gerade für Makronisten gibt es richtig viel zu entdecken. Man muss sich nur dafür Zeit nehmen und dann "dran bleiben".
Lieber Gruß,
Roland

I blog often and I genuinely…

ADMIN
Thank you for your comment…
Thank you for your comment. I am glad that you like makrotreff. I wish you all the best and
best regards,
Roland

Lieber Roland, solch ein…
Lieber Roland,
solch ein toller Artikel darf nicht in den Archivtiefen verschwinden! Ich teile deine (offensichtliche) Liebe zu diesem speziellen Lebensraum und habe die von dir beschriebenen Vorgänge und Verhaltensweise fasziniert beobachtet - vor dem Lesen dieses Beitrags. Die Bilder sind sensationell. Für alle, die sich wundern: Die Sandwespen sind bei ihren Tätigkeiten unglaublich zappelig, es ist wirklich schwer, gute Fotos zu machen und ihre Verhalten in dieser Qualität zu fotografieren! Und wenn du schreibst: "Meine Artikel auf Makrotreff werden zukünftig nicht alle so lang ausfallen ..." muss ich auf´s Schärfste widersprechen: Schenke mir und uns bitte genau solche Reportagen!
Ingo

ADMIN
Hallo Ingo, die…
Hallo Ingo,
die Verhaltensweisen vieler Insekten sind total interessant. Da kann man eigentlich gar nicht zu stark ins Detail gehen, da gebe ich Dir völlig Recht.
Ich bringe in jeder Ausgabe unserer MAKROFOTO eine Reportage mit vergleichbarer Tiefe. Ich finde, im Print mit entsprechenden Doppelseitenfotos kommen solche Storys nochmals besser. Und diese Art der Präsentation geht auch in der MAKROFOTO nie auf Kosten der inhaltlichen Tiefe.
Egal wie, es freut mich, dass wir die Begeisterung über diese Themen miteinander teilen.
Liebe Grüße
Roland

Diese Parasiten sind…
Diese Parasiten sind furchtbar!
Ich züchte Schmetterlinge: 9 von 10 gefundenen Admiral-Raupen sind parasitiert!
Einzige Möglichkeit: Admiral - Weibchen einfangen, zur Eiablage bringen , aus dem Ei die Raupen züchten!

ADMIN
Ökosysteme und ihre…
Ökosysteme und ihre Stabilität
Von Parasiten und Insekten-Gilden
Hallo Rolf,
ich kann Deinen Unmut hinsichtlich Deiner Zuchtaktivitäten bei Schmetterlingen verstehen. Was jedoch für Dich ärgerlich ist, stellt eins der Hauptstandbeine der ökologischen Vielfalt dar – und damit der Stabilität unserer Ökosysteme. Die meisten Menschen beurteilen biologische Vielfalt anhand dessen, was sie sehen: bunte Wiesen, summende Bienen, flatternde Schmetterlinge usw. All dies spiegelt jedoch nur einen kleinen Hauch der Biodiversität dar. Das meiste Leben findet unauffällig oder sogar für uns unsichtbar statt.
Schauen wir uns das am Beispiel Parasiten an:
Betrachtet man eine (naturnahe, extensiv genutzte) Wiese, wird man verschiedene Pflanzen entdecken, unter ihnen vielleicht auch die Wiesen-Margeriten. Schaut man sich diese Margeriten genauer an, findet man wahrscheinlich Fliegen, vielleicht eine Wildbiene oder einen Schmetterling oder Käfer auf ihnen. Alle nehmen dort Nahrung auf.
Eine Margerite mit einem auf ihr sitzenden Schmetterling sind zwei Arten.
Geht man nun näher ins Detail und schaut sich das an, was wir Menschen normalerweise nicht sehen, betreten wir eine andere Ebene, kommen wir in eine andere Dimension. Im Inneren der Margeritenblüte, im sogenannten Blütenkorb, leben weitere Tiere. Häufig findet man hier die Larven von Bohrfliegen. Bohrfliegen sind kleine Fliegen mit meist auffällig marmorierten Flügeln, die sich auf einzelne oder wenige Pflanzenarten spezialisiert haben. In der Margerite werden wir auf sie spezialisierte Margeriten-Bohrfliege treffen.
Schauen wir zwei bis drei Wochen später nach, werden wir neben weit entwickelten Larven der Margeriten-Bohrfliegen zusätzlich Brackwespenlarven finden – auf Margeriten-Bohrfliegenlarven spezialisierte, kleine Wespen, die an den Bohrfliegenlarven parasitieren.
Schauen wir weitere zwei bis drei Wochen später in das Innere eines Margeriten-Blütenkorbs, finden wir zusätzlich zu den weit entwickelten, vielleicht sogar schon verpuppten Margeriten-Bohrfliegenlarven und den mittelreifen Brackwespenlarven eine kleine Erzwespenlarve. Diese Erzwespe ist als Parasit spezialisiert auf die Larve der Brackwespe, die spezialisiert war auf die Bohrfliege, die wiederum spezialisiert war auf die Margerite. Wir sprechen hier von Wirt – Spezialist – Parasit – Hyperparasit-Komplexen.
Untersucht man mehrere Margeriten-Blütenkörbe, wird man locker weit über 10 verschiedene Arten finden, die in ihnen wohnen uns sich dort in mehr oder weniger starken gegenseitigen Abhängigkeiten entwickeln – zusätzlich zu den wenigen Anfangs entdeckten Arten (Margerite und der auf ihr sitzende Falter oder Käfer...). Biologen sprechen in diesem Zusammenhang von Insekten-Gilden – komplexe, meist hochangepasste und spezialisierte Lebensgemeinschaften auf engstem Raum, in denen Spezialisten und Parasiten die entscheidende Rolle spielen. So stellt also beispielsweise das artenreiche Leben im Blütenkorb der Margeriten eine sogenannte Insekten-Gilde.
Dieses Prinzip trifft in dieser oder ähnlicher Form auf alle heimischen Pflanzen zu. Es verdeutlicht, wie weit hier die Interaktionen von Tieren zu Pflanzen und in deren weiteren Folge unter den Tieren selbst gehen.
Voraussetzung für biologische Vielfalt (Biodiversität) sind unter anderem Strukturen – also viele verschiedene Lebensraumparameter. Für einen Prachtkäfer stellt beispielsweise ein toter Ast eines Baumes eine überlebenswichtige Struktur dar. Für einen Nektar suchenden Schmetterling stellt beispielsweise eine Margerite eine Struktur dar. Für die Margeriten-Bohrfliege, die sich im Inneren der Margeritenblüte entwickelt, ebenfalls. Und für die parasitierenden Brack- und Erzwespen stellen die jeweiligen Wirtstiere eine lebensnotwendige Struktur dar. Alles zusammen macht ein reich verzweigtes und damit stabiles Netz eines intakten Ökosystems aus.
Eines der größten (vielleicht sogar das größte) aktuellen Probleme, das die Menschheit hat, ist der Verlust genau dieser intakten und stabilen Ökosysteme. Hier und da mag es beispielsweise noch "bunte" Wiesen geben, auf denen wir dann freudestrahlend ein paar flatternde Falter und summende Bienen finden. Doch dort, wo das Vielfache an Artenvielfalt stattfindet, ist weitestgehend Verarmung eingetreten.
Zurück zu den Admiral-Raupen:
Die Parasiten in den Admiralraupen, die Du so häufig findest und über die Du Dich (aus Deiner Sicht verständlicherweise) ärgerst, sind nun nicht Bestandteil einer solchen (wie oben beschriebenen) Gilde. Aber sie gehören mit Sicherheit zu den bedeutendsten Bausteinen für die Stabilität des Ökosystems, in dem der Admiral lebt. Vielleicht ärgern sie Dich aus dieser Sicht heraus nicht mehr ganz so stark... :-).
Liebe Grüße
Roland
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